Eltern-Kind-Entfremdung sollte kein Randthema mehr sein. Nach aktuellen Schätzungen sind zwischen 25.000 und 35.000 Kinder jährlich von diesem Phänomen betroffen. Eine Eltern-Kind-Entfremdung ist durch Kontaktabbruch und/oder Ablehnungshaltung eines
Das Thema Eltern-Kind-Entfremdung wird von verschiedenen Medien seit der
Ausstrahlung des Films „Weil du mir gehörst“ (ARD, 2020) immer stärker beleuchtet.
Viele Verbände, Vereine und Initiativen engagieren sich seit Jahren für eine
gleichberechtigte Elternschaft nach einer Trennung und für den Erhalt beider
Elternteile für die Kinder. Leider spiegeln die Zahlen des im November 2020
veröffentlichen Zustandsberichtes des Verbandes Papa Mama auch e.V. etwas anderes:
viele Kinder und Eltern sind von einer Eltern-Kind-Entfremdung betroffen, die sich
durch langfristige Kontaktabbrüche und/oder eine massive Ablehnungshaltung des
Kindes gegenüber einem Elternteil kennzeichnet. In der deutschsprachigen
wissenschaftlichen Literatur werden diverse Begrifflichkeiten verwendet, die jedoch keine
einheitliche Definition des Phänomens einer Eltern-Kind-Entfremdung ermöglichen.
Sehr oft wird das Entfremdungssyndrom, das so genannte Parental Alienation Syndrome
(kurz PAS), mit Eltern-Kind-Entfremdung gleichgesetzt. Rein wissenschaftlich betrachtet,
ist der von Gardner in 1985 eingeführte PAS Begriff umstritten, wenngleich viele
entfremdete Elternteile die von ihm beschriebenen Leitsymptome bei ihren Kindern
wahrnehmen.
Qualitative Untersuchung relevanter Einflussfaktoren einer wahrzunehmenden
Eltern-Kind-Entfremdung in Deutschland
Julia Bleser, Vorstand Elternfrieden e.V. und Masterandin der Kommunikations- und
Betriebspsychologie hat sich im Rahmen ihrer im November zur Prüfung eingereichten
Master Thesis mit den familieninternen und externen Einflussfaktoren einer Eltern-Kind-
Entfremdung beschäftigt. In einer qualitativen Untersuchung, hat sie zunächst theoretisch
den aktuellen Forschungsstand sowie relevante Fachliteratur und Studien hinsichtlich
ihrer Fragestellungen beleuchtet und daraus ein Leitfaden-Interview entwickelt, um
Einschätzungen von durch Eltern-Kind-Entfremdung betroffene Eltern zu ermitteln.
Die Aspekte der Fragen richteten sich einmal auf die wahrgenommenen familieninternen
Faktoren sowie auf die wahrgenommenen externen Einflüsse als auch auf die
Einschätzungen zu Hilfsangeboten. Zudem wurden die „Wünsche nach Hilfen und
Lösungen“ in einem Item abgefragt, um daraus mögliche neue Handlungsansätze
ableiten zu können.
Umgang mit Begrifflichkeiten – ein wichtiger Aspekt für einen sinnvollen Diskurs
Zunächst einmal ist es wichtig, die in einer Arbeit verwendeten Begrifflichkeiten eindeutig
zu beschreiben. So ist der Gegenstand der Untersuchung in der hier beschriebenen
Arbeit das Phänomen einer Eltern-Kind-Entfremdung, welches einen langfristigen
„Kontakt- bzw. Beziehungsabbruch eines Kindes zu einem Elternteil“ darstellt und auf
bewusste „Manipulation oder Programmierung durch einen oder auch beide Elternteile“
zurückzuführen ist (von Boch-Galhau, o.J., S.1).
Weitere Entfremdungsgeschehen, die es selbstverständlich auch gibt (beispielsweise
durch Entfremdung des Kindes aufgrund von massiver Kindeswohlgefährdung durch
einen Elternteil), wurden in dieser Arbeit nicht berücksichtigt.
Wer ist verantwortlich für eine Eltern-Kind-Entfremdung?
Es kann festgestellt werden, dass die Beziehungsebene der Eltern meist bereits
schon vor der eigentlichen Trennung von Konflikten und Auseinandersetzungen
geprägt gewesen ist. Wenn auch einige Elternteile von einer anfangs noch guten
Partnerschaft, Familie und Ehe berichten, so ist der ungelöste Paarkonflikt sicher ein
Faktor, der auch nach einer Trennung auf das fragile Familiensystem einwirkt. In ihrer
Dissertation beschreibt beispielsweise Behrend (2009) in der von ihr entwickelten
Typologie die „instrumentalisierte Loyalität“ (S.173). Laut ihren Angaben spielen die
Haltung und die Bewertung des betreuenden Elternteils gegenüber dem
Expartner/der Expartnerin eine grundlegende Rolle für die Entstehung einer
ablehnenden Haltung eines Kindes gegenüber dem anderen Elternteil (Behrend,
2009, S. 174). Dies ist leicht nachzuvollziehen, wenn man bedenkt, dass Kinder den
Stimmungen, Aussagen und Meinungen ihrer Eltern ausgesetzt sind und oft mit der
Übernahme eben dieser reagieren, weil sie sich ihren Hauptbezugspersonen
anschließen. Nicht zuletzt sichert dies die eigene Existenz der Kinder, die durch eine
Trennung unweigerlich in Frage gestellt ist, wenn ein Familiensystem auseinanderbricht.
Auch das Institut für angewandte Familien-, Kindheits- und Jugendforschung (IFK) der
Universität Potsdam beschreibt in seiner Expertise A (2007) einige Zusammenhänge der
Einstellung der Elternteile zueinander und den daraus resultierenden Einstellungen der
Kinder. Laut Johnston (1994, zit. nach IFK, 2007) konnte in vielen Studien belegt werden,
„dass eine feindselige Haltung und Aggressivität eines Elternteils gegenüber dem Ex-
Partner vor allem indirekt auf die Kinder einwirken. Konflikte wirken zum Beispiel über
eine Verschlechterung der Eltern-Kind-Beziehungen“ (S. 53).
Woher die Strittigkeit oder Hochstrittigkeit von Eltern rührt, beleuchtet Julia Bleser u.a. in
ihrer Arbeit in Bezug auf die Persönlichkeitsstrukturen der Elternteile als auch in Bezug
auf die ungelösten Paarkonflikte, die mit einer gestörten Kommunikation und oft
jahrelangen Auseinandersetzungen einhergehen.
„Wer es nicht schafft, in Eigenarbeit zunächst seine Verletzungen zu bearbeiten und die
Trennung mit den verbundenen Emotionen in seine Persönlichkeit zu integrieren, wird
immer wieder Anlässe finden, sich mit der Thematik und somit auch mit dem
Expartner/der Expartnerin auseinanderzusetzen. Ich erlebe in meinen Beratungen immer
wieder, dass es eigentlich nicht um die Kinder, sondern meist um die Paarebene der
Eltern geht. Es scheint teilweise unüberwindbar, dem anderen zu verzeihen oder die
Paarebene gegen eine sachliche Elternebene zu tauschen“, so Julia Bleser, die seit
Herbst 2019 mehrere Hundert Beratungsgespräche im Rahmen ihrer ehrenamtlichen
Vorstandstätigkeit geführt hat.
Wenn zwei Eltern sich streiten, kommen Dritte ins Boot
Wenn man die eigenen Anteile der Konflikte der Eltern berücksichtigt und sich die
laufenden Verfahren betrachtet, kommt man unweigerlich auch zu den an den Verfahren
beteiligten Professionen. In ihrer Fragestellung nach den relevanten externen
Einflussfaktoren konnte Julia Bleser in ihren Interviews einige Annahmen empirisch
bestätigen, die sich auch in der Theorie finden. Beispielsweise beschreiben die
interviewten Elternteile (Mütter und Väter) ähnlich des Zustandsberichts (November,
2020) des Verbandes Papa Mama auch e.V. ihre Unzufriedenheit mit den Jugendämtern
und Familiengerichten und dass sie sich hier schlicht nicht richtig gehört und auch nicht
fair behandelt fühlen. Sehr massiv nehmen die Elternteile die gerichtlichen Einflüsse
wahr, die schlussendlich über das gesamte Familienleben und besonders über das Leben
des Kindes entscheiden.
Der Mangel an psychologischer Kompetenz und Ausbildung kann auch theoretisch von
ehemaligen Familienrichtern bestätigt werden, die seit Jahren auf dieses Faktum
hinweisen.
Hinsichtlich der wahrgenommenen Kompetenz des Jugendamtes kann man sowohl in
der quantitativen Auswertung des oben erwähnten Zustandsberichts als auch in der
durchgeführten qualitativen Untersuchung von Julia Bleser viele Parallelen entdecken.
Hier reicht die Wahrnehmung der Betroffenen seitens der Hilfestellung bzw. Aufgaben
von destruktiv über inkompetent bis hin zu überfordert.
„Nach meiner persönlichen Ansicht als psychologische Familienberaterin gehe ich davon
aus, dass Jugendämter teilweise tatsächlich überfordert sind und zwar quantitativ
aufgrund der Anzahl der Fälle pro Sachbearbeiter als auch inhaltlich, aufgrund
mangelnder Kenntnisse im Umgang mit hochstrittigen Eltern und dem Thema bewusste
Eltern-Kind-Entfremdung“, berichtet Julia Bleser aus ihrer eigenen Erfahrungswelt.
Es gäbe noch viele beteiligte andere Professionen wie Juristen, Verfahrensbeistände,
Umgangspfleger, Umgangsbegleiter, Beratungsstellen und Gutachter zu benennen, die
in diesen Verfahren eingebunden sind und über die Zukunft eines Kindes mitentscheiden.
Diesen Professionen widmet die Arbeit jeweils eigene Kapitel, um der Komplexität
gerecht zu werden.
Keine wissenschaftlich belegten Zahlen
Es ist sicherlich wichtig, die derzeitigen Verhältnisse zu beschreiben, Daten zu sammeln
und auf der Basis diverser Umfragen, Studien und wissenschaftlicher Quellen einen
Diskurs zu führen, inwieweit Eltern-Kind-Entfremdung ein Randthema unserer
Gesellschaft bleiben darf. Zu viele Zahlen sprechen dagegen, wenn auch valide Zahlen
aufgrund von nicht vorhandenen wissenschaftlichen Studien fehlen. Es ist nicht einfach,
belegbare Zahlen für dieses Phänomen zu liefern, da die betroffenen Kinder in den
wenigsten Fällen alt genug sind, sich selbst an einer Studie zu beteiligen, bzw. wenn sie
jahrelang entfremdet wurden, eventuell gar nicht den Sinn darin sehen. Entfremdende
Elternteile dazu zu bringen, sich selbst (wenn auch anonym) dazu zu äußern und
eventuell eigene Missstände zuzugeben, ist ebenso unwahrscheinlich. So kann man
gewisse Zahlen nur schätzen, die sich aus gerichtlichen Verfahren ergeben, in denen das
Sorge- und Umgangsrecht gegenständlich sind.
Viele Verbände gehen von ca. 25.000 bis 35.000 Kindern jährlich aus, die von einer
Eltern-Kind-Entfremdung betroffen sind.
Verbesserung der Früherkennung bzw. der frühen Intervention
„Es ist relativ einfach. Je früher Entfremdungstendenzen erkannt und festgestellt werden,
umso eher kann man dagegenwirken und schlussendlich das Phänomen der Eltern-Kind-
Entfremdung an seiner Entstehung bzw. Ausdehnung behindern“, erklärt Julia Bleser ihre
Erkenntnisse aus den letzten Jahren.
Das hieße im Umkehrschluss, dass man Kinder und Eltern präventiv nach einer
Trennung/Scheidung begleitet, um die Eskalation von Konflikten zu verhindern oder
durch eine angeordnete Intervention Eltern in akuten Konflikten mit gerichtlichen
Verfahren zu einer Deeskalation bewegt.
Genau so ein Konzept hat Julia Bleser im Verein Elternfrieden e.V. mit einer kleinen
Fachgruppe unter ihrer Leitung entwickelt. GetrenntZUSAMMEN ist ein Pilotprojekt und
greift auf zwei Stufen in das Konfliktgeschehen ein. Auf Stufe 1 werden Kinder und Eltern
in 6 aufeinanderfolgenden Terminen familientherapeutisch begleitet, um einen
hocheskalierenden Konflikt zu vermeiden und die familiären sowie individuellen
Ressourcen zu stärken. Auf Stufe 2 sieht das Konzept eine angeordnete Maßnahme vor,
die Kinder und Eltern in mehreren familientherapeutischen Sitzungen zu einer
Konfliktbeilegung (Deeskalation) verhelfen und gleichzeitig familiensystemische
Störungen sowie Kommunikationsstörungen aktiv abbauen soll. Hier ist der Verein
bereits im Gespräch mit interessierten Jugendämtern und trennungsbegleitenden
Fachprofessionen.
Warum Elternfrieden so wichtig ist
Jeder Elternkonflikt wirkt sich auf die betroffenen Kinder aus. Manche Kinder
reagieren mit psychischen Belastungssymptomen, manche mit Aggressionen und
manche leiden nach innen. Jeder politische, wissenschaftliche, mediale oder rein
menschliche Diskurs sollte also die Kinder in den Mittelpunkt rücken, um gemeinsam
für sie nach anderen Lösungen und tatsächlichen Verbesserungen zu suchen. Denn sie
wünschen sich im Normalfall den Umgang mit beiden Elternteilen, weil sie sie lieben
und Zeit mit ihnen verbringen möchten. Eine zerstörte Bindung greift in die
Entwicklung eines Kindes ein, das seinen Bindungsverlust zu einer seiner
Hauptbezugspersonen meist psychisch kompensiert, indem es diesen Verlust auf sich
selbst bezieht (Identitätskonflikt), die Liebe seines Elternteils in Frage und damit auch
sich selbst in Frage stellt oder sich aus Selbstschutz in sich zurückzieht und das
Vertrauen in natürliche Bindungen und Beziehungen verliert.
Nach der Benotung und Veröffentlichung der Arbeit von Julia Bleser wird sie die
ausführlichen theoretischen wie empirischen Ergebnisse gerne Ihrer Redaktion zur
Verfügung stellen, falls Sie an detailliertem Material interessiert sind.
Gerne gibt der Vorstand von Elternfrieden e.V. auch in einem persönlichen Gespräch
Auskünfte zu Fallbeispielen, dem entwickelten Konzept GetrenntZUSAMMEN und zu den
Erfahrungen zu dem gesellschaftlich wichtigen Thema, dass uns alle angehen sollte.
ELTERNFRIEDEN
Starke Eltern für starke Kinder
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