Undifferenzierte Darstellung der Antidepressiva-Debatte

Bundesverband Burnout und Depression kritisiert ARD-Reportage

„Es ist nicht neu, dass das Thema „Antidepressiva“ die Gemüter bewegt und polarisiert. Allerdings hätten wir uns von einer Reportage im öffentlich-rechtlichen Fernsehen mehr Ausgewogenheit in der Reflexion der seit über 20 Jahren andauernden Diskussion gewünscht. Denn um ihn nur in schwarz-weißer Schattierung zu betrachten, dafür ist der Komplex viel zu ernst“, erklärt Thomas Grünschläger, Vorsitzender des Bundesverbandes Burnout und Depression e.V. zur Dokumentation „Tabletten gegen Depressionen – helfen Antidepressiva?“ von „Das Erste“ des 12.09.2022.

Insgesamt sei der Tenor des Fernsehbeitrages aus seiner Sicht aber tendenziell negativ gewesen, was die Beurteilung der „Happiness-Pillen“ angeht: „Zweifelsohne brauchen wir noch mehr Langzeitstudien, um mögliche dauerhafte Schädigungen durch Antidepressiva besser bewerten und Abhängigkeitspotenziale sicher ausschließen zu können. Natürlich ergibt sich auf perspektivische Sicht ein Gewöhnungseffekt an solche Tabletten. Allerdings existieren viele Medikamente, bei denen ein Absetzen des Wirkstoffs zur Rückkehr von Symptomen führt. Das ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal für antidepressive Präparate, sondern kann bei Blutdruckmedikamenten genauso beobachtet werden wie bei einer notwendigen Therapie mit einem Schmerzmittel oder Lipidsenkern. Insofern muss man fair sein und sollte Psychopharmaka nicht aufgrund manchen Vorurteils anders betrachten als Arzneimittel sonstiger Gattungen. Erfahrungsgemäß können insbesondere endogene Depressionen durch eine pharmazeutische Mitbehandlung besonders gut beeinflusst werden“, so Grünschläger.

Der Psychosoziale Berater des BBuD, Dennis Riehle, blickt durch seine eigene Erfahrung als Betroffener einer Vielzahl mannigfaltiger psychischer Erkrankungen, gleichsam durch viele Berichte von ihm begleiteter Mitpatienten, zusammenfassend mit einem eindeutig positiven Eindruck auf den Einsatz von Antidepressiva und empfiehlt mehr Gelassenheit im Umgang: Dass die Menge der verschriebenen Psychopharmaka in den letzten Jahren deutlich zugenommen habe, liege vor allem am Anstieg der verzeichneten seelischen Erkrankungen selbst: „Unsere Gesellschaft ist insgesamt psychisch labiler geworden, weil Probleme und Herausforderungen komplexer als früher sind und wir durch einen zunehmenden Wohlstand und falsche Krisenerprobtheit weniger Resilienz aufbauen konnten. Daneben ist es aber gleichsam so, dass Menschen heute durch die Entstigmatisierung psychischer Leiden und das Bewusstsein um deren Existenz eher und schneller den Arzt oder Psychotherapeuten aufsuchen und sich – auch mit Medikamenten – helfen lassen wollen. Das ist eine gute Entwicklung, weil die Sensibilität steigt“. Jedoch dürften Fehler aus der Vergangenheit nicht wiederholt werden, sagt Riehle: „Dass wir nervöse Kinder oder unruhige Senioren mit Arzneimitteln ruhiggestellt haben – und dies leider auch heute noch manches Mal tun – ist ethisch verwerflich und trägt zum Verruf von Psychopharmaka bei. Hier liegt eine grundsätzliche Neigung zur Pathologisierung vor, welche die Schattenseite einer aufgeklärten Gesellschaft abbildet. Denn nicht jede von der Norm abweichende Verhaltens- oder Denkweise ist sofort krankhaft und muss behandelt werden“.

Der Berater meint zudem: „Grundsätzlich sollte Psychotherapie die erste Wahl sein. Doch gerade bei akuten Krankheitsschüben kann manchmal eine notfallmäßige Intervention mit Arzneimitteln nötig werden. Gleiches gilt für den Fall, dass ein Betroffener durch seine Symptomatik derart belastet ist, dass er einer psychotherapeutischen Maßnahme nicht zugänglich ist. Und auch bei schweren psychiatrischen Erkrankungen kann eine Zweigleisigkeit sinnvoll sein, um einen Therapieerfolg zu stabilisieren und Leidensdruck zu nehmen“. Es brauche stets eine kritische Abwägung, ob man nicht auch ohne Medikamente auskomme. Wenn man dabei aber zur Entscheidung gelange, dass eine unterstützende Begleitung durch Psychopharmaka sinnvoll sei, müsse man sich dafür nicht entschuldigen: „Eine pauschale Verurteilung der heutigen Psychiatrie ist unangebracht und liegt mir fern. Wenn ein Arzt unter Einbeziehung des Patientenwillens zum verantwortungsvollen Entschluss gelangt, Antidepressiva einzusetzen, erkenne ich es respektvoll an und unterstütze das. Ob Depression, Burnout, Angst, Zwang oder Panikstörung: Es braucht stets eine Gewichtung von Pro und Contra, leichtfertig sollte man Präparate nie verordnen oder einnehmen. Medikamente dürfen nicht deshalb angewendet werden, weil sie den einfacheren Weg darstellen. Maßstab sollten Intensität, Dauer und Tiefe der Symptome, Krankheitseinsicht und Psychotherapiefähigkeit des Patienten sein“ erklärt Dennis Riehle.

Abschließend müsse man sich auch klarmachen, dass die allermeisten psychischen Erkrankungen auch eine körperliche Ursache haben: „Sobald Schilddrüsenprobleme oder ein Vitaminmangel ausgeschlossen sind, muss man an den endokrinen Haushalt im Kopf denken. Denn nicht selten gibt es Veränderungen am biochemischen Hirnstoffwechsel. Gerade die Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin können bei vielen Patienten mit einem scheinbar nur auf die Seele bezogenen Leiden im synaptischen Spalt nicht hinreichend verwertet werden und wirken daher zu wenig oder zu kurz. Da können Antidepressiva, die die vorschnelle Wiederaufnahme der Gewebshormone in den Kreislauf hemmen und damit ihren Verbleib an den wichtigen Stellen des Gehirns fördern, einen Beitrag zur physiologisch ursächlichen Behandlung leisten“, so Riehle.

Der Bundesverband Burnout und Depression e.V. ist eine deutschlandweit tätige Selbsthilfeorganisation, welche Betroffenen und Angehörigen bei der Bewältigung ihrer Erkrankung hilft und Medien wie Politik und Fachpersonen mit Informationen und Erfahrungswerten zur Verfügung steht.

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Bildquelle: BBuD e.V.

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