Dr. Johanna Dahm: „Glück ist ein Ergebnis von Entscheidungen gegen Trends, Mainstream oder Routinen“
Was macht glücklich?
von Dr. Johanna Dahm
Inmitten des turbulenten Jahres 2023 fürchten die Deutschen verstärkt um ihre Zukunft. Das schlägt sich nicht nur auf den stagnierenden Konsum und eine Rückgang des BIP nieder, auch auf dem aktuellen worldhappiness.report sinkt die Republik um weitere Plätze. Trotz einer Flut an Glücks-Ratgebern wirken mehr Menschen denn je unzufrieden. In einem Interview wurde die Frankfurter Entscheidungsexpertin Dr. Johanna Dahm zu diesem Trend befragt: Ist Glück lernbar? Ist Mut ein Schlüssel zum Glück? Und machen Entscheidungen glücklich? Sie antwortete aus einem Fundus an historischen, wissenschaftlichen, empirischen Erkenntnissen und 22 Jahren persönlicher Betrachtung – zur allgemeinen Überraschung.
Frage: Es gibt zahlreiche Coaching-Angebote, Bücher und Seminare, die versprechen, das Glück zu finden oder mehr Mut zu entwickeln. Doch trotz des Booms in der Selbsthilfe-Branche scheinen solche Versprechen oft nicht zu funktionieren. Wie sehen Sie das?
JD: Glück und Mut sind ja sehr persönliche und individuelle Themen. Was für den einen Menschen funktioniert, klappt für den anderen eben nicht. Viele Coaches und Konzepte offerieren eine Art Einheitslösung, die sich mit den Bedürfnisse und Umständen der Ratsuchenden nicht vereinbaren lässt.
Frage: Was ist mit Erfolgsversprechungen – kann man diese ernst nehmen oder raten Sie da eher zur Vorsicht?
JD: Ähnlich wie in der Medizin würde eine seriöse Beratung oder Coaching gar keine gar schnellen Erfolge oder Ergebnisse versprechen, das wäre ja unlauter. Es ist der Zeitgeist, der immer schneller wird. Menschen wollen Adhoc-Lösungen, und das steht nun mal im Widerspruch zu Geduld, Ausdauer und Bereitschaft, sich mit den eigenen Werten, Zielen und Bedürfnissen auseinander zu setzen. Langfristige gerade individuelle Veränderungen erfordern das allerdings, das ist im privaten wie im beruflichen Kontext nicht anders.
Frage: Gibt es denn überhaupt irgendeine Garantie oder zumindest ein Anrecht auf Erfolg oder Glück – die amerikanische Verfassung hat das ja verankert…
JD: Danke für dieses Beispiel! Das „Recht auf Glück“ wurde ja gar nicht direkt in die amerikanische Verfassung aufgenommen. Stattdessen heißt es in der Unabhängigkeitserklärung von 1776, dass alle Menschen „das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ haben. Die Formulierung ist wichtig, weil sie ein grundlegendes Menschenrecht konstatiert und mit der damaligen Monarchie der britischen Herrschaft und feudalen Gesellschaftsstrukturen bricht. Die Idee des individuellen Glücksstreben war ein zentraler Gedanke in der Begründung der neuen amerikanischen Nation. Es war das erste Mal, dass eine Regierung offiziell das Recht auf Glück als Teil ihrer politischen Doktrin anerkannte, was bis heute ein wichtiges Erbe der amerikanischen Geschichte ist – also kein allgemein gültiger Glücksbegriff sondern ein Appell, dass Menschen sich auf ihre eigenen Entscheidungen konzentrieren, die langfristige Zufriedenheit und Glück fördern sollten.
Frage: Was bedeutet das dann konkret?
JD: Die Übertragung der Aufgabe an den einzelnen, sich den eigenen Platz in der Gesellschaft, eine Karriere, Vermögenswerte, Absicherung für die Familie, vielleicht Grundbesitz aufzubauen, für manche Industrielle durchaus auch Unternehmenswerte und all das nicht durch Missachtung der Gesetze zu gefährden – eben nicht auf dem Rücken von Staat und Regierung als Versorger. In Deutschland wird diese Verantwortung ja mehr und mehr abgewälzt, das eigene Glück von Staat, Politik, Gehaltssicherheit abhängig gemacht. Der Rest besteht in kurzfristigen Glücks-Momenten und aneinandergereihten Momenten, die oft mit Lebensstandard und Konsum, Aktivitäten und Beziehungen in Verbindung stehen. Weniger aber mit Selbstreflexion, Selbstakzeptanz, Hinterfragen von Werten und Zielen oder innerer Zufriedenheit zu tun haben
Frage: Haben wir also einen falschen Fokus?
JD: Nicht unbedingt, allerdings lassen wir uns durch die Medien stark manipulieren. Dadurch befinden wir uns in einem dauernden und komplexen inneren Algorithmus: wir vergleichen ständig Ist- und Sollzustände, hinterfragen unsere Erwartungen an Leben, Beruf, Beziehung usf. Wir reden uns inzwischen selbst ein, nicht gut genug zu sein, stellen uns selbst durch fortlaufendes Vergleichen unter einen Erfolgsdruck, an dem wir zwangsläufig scheitern müssen!
Frage: Und das macht unglücklich?
JD: mehr und mehr! Erfolgserleben schüttet im Hirn Dopamine aus, die Glücksempfinden steigern. Statt uns am eigenen Sein und Haben zu freuen, setzen wir uns dem dauernden Vergleich aus, mehr haben zu müssen, nicht genug zu sein, zu leisten. Als hätten wir mit Covid, Krieg, Digitalisierung, Umweltthemen nicht schon Stress, Krise und Veränderungen genug, ist auch das nicht genug, was uns ein bisschen Komfort geben könnte.
Frage: Auf dem worldhappiness.report, der Liste der glücklichsten Länder der Welt rutscht Deutschland weiter ab, inzwischen auf Platz 16 der Liste. Skandinavien dagegen führt unangefochten – was haben andere uns voraus?
JD: (lacht) ja, wir reden, die anderen machen, oder? Aber im Ernst: Deutschlands Medien treiben ja geradezu eine Mut-Welle vor sich her: Der Kanzler wirbt auf dem Wirtschaftstag für „mehr Mut, mehr Investitionen und vor allem mehr Tempo“, Ulrich Spahn fordert auf der Retail-Messe „Weitsicht, Innovations-Bereitschaft und Mut“, die Umwelt-Zeitschrift GEO animiert mit dem Slogan „NUR MUT – DIE WELT IST GUT“ die Leser nochmals zum Kauf – aber was bei den Bürger ankommt, ist: MUT sollen erstmal sie aufbringen und in Vorleistung gehen, damit die Erwartungen der Politik erfüllt werden und diese vielleicht eine Entscheidung treffen, ihre Versprechungen wahr machen können.
Frage: Sehen Sie hier auch einen Zusammenhang mit den jüngsten Wahlerfolgen extremer Parteien und der lauter werdenden Unzufriedenheit in der Gesellschaft?
JD: Die Politiker versuchen ja den Dialog, der natürlich noch Spielraum für Verbesserungen lässt. Bei den Bürger*Innen spüren wir inzwischen alles zwischen echtem Engagement über Politik-Müdigkeit bis Verachtung: viele haben Erwartungen an Vorteile aufgegeben, die nicht gewährt wurden und die Wähler*innen sind natürlich in einer Hab-Acht-Stellung, welches Damokles-Schwert als nächstes droht! Ob beim Fußball oder auf der Demo: In der Gruppe kann die Angst in einem kurzen „Wir“ abgeleitet werden, was durch die Massendynamik sogar kurzfristig glücklich macht! Aber wir kennen ja den berühmten Spruch aus dem Film „Star Wars“ – und aus der deutschen Vergangenheit: Angst führt zu Wut, diese zu Hass, Hass zu Gewalt und auf die dunkle Seite.
Frage: Haben wir denn gar keine Chance auf Glück? Sollten wir uns nicht einfach mal für etwas entscheiden?
JD: Ich wage die Behauptung: den meisten Menschen mangelt es an echtem Interesse an irgendetwas. Mit Entscheidungen haben Glücksempfindungen im Regelfall wenig zu tun, denn als Individuen lieben wir doch die Vielfalt, die Option, empfinden die finale Wahl tatsächlich doch eher als Einschränkung. Daher auch das Sprichwort von der „Qual der Wahl“: stellen Sie sich einen bunten Markt vor, das Überangebot an Speisen, Früchten, Gemüse und Obst – und jetzt dürfen Sie nur eine einzige Sache kaufen. Das setzt ganz schön unter Druck und noch vor der Kaufentscheidung trauern Sie den vielen Dingen nach, die Sie auch gern gehabt hätten.
Frage (ungläubig) Überangebot führt also zu Desinteresse?
JD: So wie im Supermarkt die meisten Lebensmittel wieder weggeworfen werden, weil sie gar nicht abverkauft werden, verhält es sich auch auf dem Arbeitsmarkt: alle Welt spricht vom Fachkräftemangel, aber weder auf Unternehmens- noch Kandidatenseite ist genügend Zug: Eine Studie der Uni Bamberg hat jetzt wieder gezeigt: 70% der BewerberInnen verliert sofort das Interesse selbst an einem hochdotierten Job, wenn der Recruiting Prozess länger als 4 Wochen dauert. Und die Führungskräfte tun sich nach wie vor schwer mit dem finalen Zuschlag, wollen lieber noch zwei, drei Kandidaten mehr sehen nach dem Motto „drum prüfet, wer sich ewig bindet“. Und mit einem Mal ist der Top-Kandidat gar nicht mehr so attraktiv, weil die Entscheidung selbst so schwer fällt.
Frage: Veränderungsprozesse in Unternehmen, Transformationen brauchen ja Zeit – treffen die Verantwortlichen gern Entscheidungen?
JD: In Organisationen prallen zwei Welten aufeinander, die einen sehen sich als Teil einer Gemeinschaft, die für ihr Wohlgefühl zuständig ist. Läuft alles gut, sozusagen in tadellosen Routinen und das Geld ist pünktlich auf dem Konto, sind alle mehr oder minder zufrieden. DAs ist ein absolut unterschätzter Punkt: diese Mitarbeitenden stemmen sicher den Hauptteil der Arbeit und wollen weder Mut noch eine Position mit großartiger Entscheidungsbefugnis. Und das sollten wir auch respektieren
Frage: Und der andere Teil?
JD: Wenn ich vor Arbeitgeber-Foren oder Executives Vorträge halte oder mit meinem ExpertInnen-Netzwerk auf Projekten bin, dann sind unsere Ansprechpartner oft die 1 bis 2 Prozent, die sich mit Agilität und lernenden Organisationen beschäftigen und auch dran glauben. Nur wenige in Unternehmen sind wirklich davon überzeugt, dass Glück ein Ergebnis von Handlungen oder gar Entscheidungen, gegen Trends, Mainstream oder Routinen ist.
Frage: Warum ist das so? Besteht nicht in Veränderung Innovation?
JD: Mag sein, aber es fühlt sich ja nicht so an. Abstimmungsprozesse sind langwierig, wer schon einmal in einer Tarifrunde saß, einen Sozialplan ausgearbeitet hat, oder gar eine Organisation umgebaut hat, weiß das. Aber hier erkenne ich, ob Menschen sich engagieren und wirklich bei der Sache sind: Interesse ist wichtig, um überhaupt erst eine Leidenschaft und Motivation für eine längere Zeitspanne aufzubauen für das, was man im Kleinen angefangen hat. Wenn man für ein Thema oder eine Aufgabe brennt, ist es wahrscheinlicher, dass man sich engagiert und die notwendige Arbeit leistet, um erfolgreich zu sein. Interesse trägt auch dazu bei, dass man sich kontinuierlich weiterbildet und notwendige Fähigkeiten entwickelt, um durchzuhalten, ans Ziel zu kommen.
Frage: Ist Glück in Unternehmen überhaupt ein Thema?
JD: Glück ist ja fälschlicherweise zu einem Synonym für den Zustand des Wohlbefindens oder der positiven Emotionen geworden. Unternehmen tun gut daran, hier keine falschen Versprechungen zu machen. Ohnehin wollen alle – KandidatInnen, Mitarbeitende; Dienstleister – alle wollen möglichst unter dem gleichen Dach des Unternehmens ihr Glück finden. Das ist schlicht unmöglich. Ein Unternehmen dient einem Zweck – und der richtet sich nicht nach dem individuellen Glück der Mitarbeitenden. Es ist schon viel gewonnen, wenn die Werte von Mensch und Unternehmen kongruent sind. Das ist Grundlage für eine lange und gute Zusammenarbeit. Was wir aber immer noch unterschätzen: eine möglichst sinnvolle, täglich ausgeführte Tätigkeit trägt zu individuellem Glück und Wohlbefinden zu einem Grossteil bei. Wenn Unternehmen diese bieten können, müssen Sie sich um die Bindung und Gewinnung von Personal nicht sorgen. Umgekehrt gilt es diese Tätigkeit seitens der Mitarbeitenden wieder verstärkt zu wertschätzen, möglichst vor dem Arbeitsplatzverlust an ambitioniertere KandidatInnen oder gar die künstliche Intelligenz.
Frage: Was würden Sie Menschen also empfehlen, die sich aktuell mutlos oder unglücklich fühlen
JD: Ich würde den eigenen Anspruch an meinen Mut oder an mein Glück ein klein bisschen runterschrauben und mich zunächst fragen: was interessiert mich wirklich? Vielleicht brauche ich ein neues Karriereziel? Vielleicht habe ich ein altes, längst vorhandenes Ziel ein bisschen schleifen lassen? Und dann sollte ich mich erinnern, dass stetes Interesse, Disziplin, Durchhalten mich dahin geführt hat, wo ich heute stehe. Gewiss hat auch immer ein bisschen Glück dazu gehört, aber es ist schlussendlich der eigenen Motivation, dem eigenen Engagement zu verdanken, dass man vielleicht sogar trotz Widerstand etwas zustande gebracht hat.
Und ob es jetzt die Unternehmensgründung oder die Neuausrichtung der Karriere, eine Produktentwicklung oder etwas anderes ist – Mut ist so etwas wie die Zündung beim Motor, aber das echte Interesse, die Motivation, das Durchhalten und die notwendige Sorgfalt – darauf kommt es an, um die eigene Entscheidung auch wirklich zum Erfolg zu führen.
Danke liebe Frau Dahm für das Gespräch. Die Fragen wurden gestellt vom HR.
Über Dr. Johanna Dahm:
Dahm, International Consulting, CEO Dr. Johanna Dahm, MBA
Die Unternehmensberaterin und Entscheidungs-Expertin unterstützt seit mehr als 20 Jahren Menschen und Organisationen in Krise und Change-Management.
Mehr Tipps zu persönlichen und unternehmerischen Veränderungen im neuesten Buch von Johanna Dahm (Hrsg.) Atlas der Entscheider – Von der Entscheidung zum Erfolg (Münster 2023).
Sehen Sie sich auch dieses Video mit Dr. Johanna Dahm an: https://youtu.be/VWT9A7iW7hU
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