Eine geflügelte Siegesgöttin und ein nach dem Wettkampf ruhender Boxer bilden das Paar, das derzeit in den neuen Kapitolinischen Tempel der Stadt Brescia lockt. Durch das Zusammenspiel der antiken Plastiken ist etwas Neues entstanden, sagt der spanische Architekt und Bildhauer Juan Navarra Baldeweg, der die Ausstellung kuratiert. Als temporäres Kunstwerk führen die rund 2000 Jahre alten Bronzen einen „Dialog“, der aktueller nicht sein könnte.
Il Pugile e la Vittoria, der Boxer und die Siegesgöttin, so der Titel der Ausstellung, die bis Ende Oktober auf dem von der UNESCO zum Welterbe erklärten archäologischen Gelände Brixia im Herzen der Stadt Brescia zu sehen ist. In ihrem „ersten Leben“ hatten die beiden Bronzefiguren rein gar nichts miteinander zu tun. Er, eines der großartigsten hellenistischen Bronzekunstwerke, die bis heute überdauert haben, wurde höchstwahrscheinlich im antiken Griechenland erschaffen und später von den Römern in die Hauptstadt ihres Riesenreichs gebracht. Sein Alter lässt sich nicht eindeutig beziffern. Manche Experten datieren den Pugilatore in riposo, wie das Kunstwerk mit vollständigem Katalog-Titel heißt, auf das vierte, andere auf das erste Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Über Sie ist Genaueres bekannt. Die Vittoria Alata, Brescias Siegesgöttin mit Helm und Schild, gilt als eines der bedeutendsten römisch-antiken Kunstwerke Norditaliens, und wurde mit Sicherheit in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts n.Chr. in einer Bronzegießerei in oder nahe Brixia, dem heutigen Brescia, hergestellt.
Ursprünglich dienten die beiden Objekte unterschiedlichen Zwecken. Der Boxer muss lange Zeit an einem Ort ausgestellt worden sein, der vielen Menschen zugänglich war. Denn am männlichen Bronzekörper zeigen sich nicht nur die meisterlich ins Material gearbeiteten Blessuren des Wettkampfs, sondern auch Spuren, die unzählige Berührungen bewundernder Betrachter im Laufe der Zeit hinterlassen haben. Ganz anders die Göttin. Sie hatte ihren Platz höchstwahrscheinlich im Tempel des antiken Brixia und war dort nur für die Augen weniger Privilegierter bestimmt. Historikern zufolge war sie ein Geschenk des römischen Herrschers Vespasian – als Dank an die Stadt für ihre Unterstützung in einer Schlacht Roms gegen das nahe Brescia gelegene Cremona im Jahr 69 n. Chr. Vespasians Truppen waren dabei als Sieger vom Schlachtfeld gegangen.
Aus dem Schutt der Geschichte geborgen
Nach dem Zerfall des ömischen Reiches wurde beiden Kunstwerken ein ähnliches Schicksal zuteil. Durch Verwüstungen in unruhigen Zeiten verloren sie ihre „Wirkungsstätten“ und wurden schließlich vom Schutt der Geschichte begraben. Erst im 19. Jahrhundert förderten Archäologen die geflügelte Vittoria und den mit gekreuzten Beinen und auf die Schenkel gestützten Armen sitzenden Boxer wieder zutage. Die Göttin wurde 1826, drei Jahre nach Beginn der archäologischen Grabungen in Brescia, gehoben. Den Boxer fanden Archäologen 1885 am Fuße des Quirinals, eines der sieben Hügel Roms. Heute gehört Il Pugliatore in riposo zur Sammlung des Nationalmuseums in Rom.
Um die Vittoria Alata gebührend in Szene zu setzen, hat Brescia vor wenigen Jahren vom spanischen Architekten Navarra Baldeweg das Capitolium Nuovo bauen lassen, einen Neubau hinter der römischen Tempelruine im historischen Zentrum der Stadt. An diesem Ort treten in der aktuellen, von Navarra Baldeweg kuratierten Ausstellung beide Kunstwerke miteinander in Beziehung. Verschiedene Bezüge und Deutungsebenen tun sich auf. Es geht um Sieg und Wiederherstellung des Friedens nach einem gewaltsam ausgetragenen Konflikt. Der Boxer, der seinen Oberkörper der Siegesgöttin zukehrt, erbittet augenscheinlich Frieden und Schutz vor weiteren Blessuren.
Betrachtende werden Teil des Dialogs
Durch einen in einer Raumecke installierten Spiegel gewinnt ihr Verhältnis dabei deutlich an Komplexität. Spannend wird die Anordnung dadurch, dass der Boxer das eigene geneigte Haupt zum Spiegel wendet, der jedoch nicht sein Spiegelbild, sondern das der Göttin zurückwirft. Hier liegt laut Navarra Baldeweg der Schlüssel zur Botschaft seines temporären Kunstwerks. Reflektiert der Kämpfer das eigene, fremdgesteuerte Tun? Erkennt er die höhere Macht, die Triebfeder seines Handeln ist und die ihn für ihre Interessen in brutale Kämpfe treibt? Besucher der Ausstellung werden beim Betrachten der Bronzen auch mit dem eigenen Spiegelbild konfrontiert und dadurch hineingezogen in den Dialog zwischen der Macht, die kämpfen lässt, und dem Akteur, der seinen Körper für ihren Triumph einsetzt. Auf diese Weise entsteht ein Spannungsfeld, dem sich hier niemand entziehen kann.
Das Gastspiel des Pugliatore in riposo im Saal der Vittoria Alata ist der Zusammenarbeit der Stadt Brescia mit dem römischen Nationalmuseum und anderen Partnern zu verdanken. Die Ausstellung findet im Rahmen von „Brescia und Bergamo – italienische Kulturhauptstadt 2023“ statt und nimmt gleichzeitig Bezug auf den Beginn der archäologischen Grabungen in Brescia vor 200 Jahren. Weitere Informationen zum Kulturprogramm, das noch bis Jahresende ausgerollt wird, unter www.bresciamusei.com und www.visitbrescia.it.
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